GEDÄCHTNIS IN FORSCHUNGEN UNTERSCHIEDLICHER DISZIPLINEN
Das »Gedächtnis« ist im letzten Jahrzehnt zu einem Leitbegriff der kulturwissenschaftlichen Neuorientierung geworden, so sagt Aleida Assmann: Als neues Forschungsparadigma ist der Begriff zum Forschungsgegenstand unterschiedlichster Disziplinen geworden. Die Neurologen auf neuronaler Ebene, setzen sich mit unseren internen Datenströmen (der hardware der Organismen) auseinander (dies wird im Abschnitt des »künstlichen Hippocampus« noch vertiefender thematisiert). Die Psychologen rollen das Feld ebenfalls neu auf indem sie kognitive und emotionale Gedächtnisprozesse erforschen und kategorisieren. Soziologen interessieren sich für Erinnerungs- und Erzählgemeinschaften in sozialen Kontexten – wie erleben Menschen mit ähnlichen Erfahrungshintergründen diese und jene Situation. Historiker fokussieren sich hingegen auf auf die Frage nach der Zuverlässigkeit menschlicher Gedächtnisse; Auch in den Kunstwissenschaften hat der Begriff bereits vor einigen Jahren Anschluss gefunden – das kulturelle Gedächtnis wird untersucht. Diese Liste ließe sich laut Assmann noch sehr viel weiter führen, doch bereits jetzt werden zweierlei Dinge deutlich: Zum einen das ansteigende Interesse am »Gedächtnis« zum anderen wird es auch gefährlich und zwar dahingehend, dass sich nun in der Gesamtheit des Begriffs ein solch monströses Mosaik von transdisziplinären Feldern auftut, die sich nicht nur oftmals Überschneiden sondern noch dazu vermehrte Unklarheit schaffen – sprich ohne Kontext verläuft der Begriff in der Bedeutungslosigkeit.
In diesem Aufsatz, soll der Fokus des Gedächtnisses demnach auf das Kulturelle gelegt werden und mit Komponenten der Neurologie und den digitalen Datenträgern angereichert einen neuen Blickwinkel eröffnen. Für uns persönlich bedeutet ein Sprechen über das Gedächtnis gleichzeitig auch eine Besprechung der Erinnerung, die beiden Begriffe implizieren sich meist gegenseitig. Gedächtnis und Erinnerung treten oft synonym auf, gelegentlich aber auch als Begriffe mit gegensätzlicher Wertigkeit. Erinnern steht grundsätzlich für die Tätigkeit des »Zurückblickens« auf vergangene Ereignisse, Gedächtnis hingegen für die Voraussetzung dieser Tätigkeit. Gedächtnis steht für die allgemeine Anlage und Disposition zum Erinnern. Im Umkehrschluss kann es auch so formuliert werden: Das Gedächtnis ist (neuronales oder elektronisches) Produkt der Erinnerungen und zugleich umgekehrt, denn wir setzen unsere Erinnerungen aus bereits vorhandenen (abgespeicherten) Erfahrungen zusammen und konstruieren uns somit eine subjektive Erinnerungskette. Das Gedächtnis kann metaphorisch mit einer Harddrive Disc gleichgesetzt – beide beinhalten Daten, die aus ihrer Zeitlichkeit herausgelöst sind. Das »Erinnern« hingegen ist immer verkörpert und an ein lebendiges Bewusstsein gebunden. Denkt man an archiviertes, persönliches Bildmaterial auf dem Personal Computer, so lösen diese beim erneuten Anblick zwar eine Erinnerung aus, diese hat jedoch nichts mit »maschinellen Erinnerungen« zu tun – die Elektronik kann das Gedächtnis ersetzen, jedoch im allgemeinen keine Erinnerung für uns produzieren (im Neuronen Kontext). Dieser Behauptung wird im Verlauf dieses Textes noch widersprochen werden, da es bereits reale wissenschaftliche Erfolge gab – digitale Erinnerungen zu verpflanzen, jedoch sind auch diese noch an ein lebendiges Bewusstsein geknüpft – man kann es also mit »Jein« verneinen. Beide Begriffe besitzen zudem unterschiedliche Zeitachsen: Das Gedächtnis variiert, das menschliche Gedächtnis ist unterteilt in Ultrakurzzeit-, Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis, ein digitales Gedächtnis oder ein sonstiger Datenträger besitzt hingegen die Lebensdauer seines Materials. Das Erinnern hingegen findet ausschließlich in der Gegenwart statt, es greift die Vergangenheit (Erfahrungen) auf, setzt sie in der Gegenwart zusammen (verzerrt sie dabei jedes mal) und legt uns dabei einen hypothetischen Blick in die Zukunft frei (wie wäre es wenn). Dem Wort memory beispielsweise, steht (im englischen) kein gleichwertiger Partner zur Seite. Dafür legt der Begriff »memory« ein ganzes Spektrum an Begriffen offen: »retention«, »remembrance«, »recall«, »recollection«, etc.; Dabei handelt es sich nicht um Synonyme, die fein nuancierten Unterschiede beziehen sich teilweise auf das »individuelle« teilweise auf das »kollektive« Gedächtnis oder aber beschreiben formelle oder eben informelle Erinnerungsakte. Widmen wir uns der Vollständigkeit halber noch einigen Unterkategorien des Gedächtnisses.
2
Das kollektive Gedächtnis
Während keiner je daran gezweifelt hat, dass es ein individuelles Gedächtnis gibt, gibt es viele die den Begriff kollektives Gedächtnis für eine reine Mystifikation halten. Susan Sontag
3 – amerikanische Schriftstellerin und Publizistin – geht davon aus, dass eine Gesellschaft wählen, denken und sprechen kann, aber nicht imstande ist sich zu erinnern. Sie kann sich offensichtlich entscheiden ohne einen Willen, sie kann denken ohne einen Geist und sprechen ohne Zunge, aber sie kann sich nicht erinnern ohne ein Gedächtnis. Für Sontag ist es unmöglich, Gedächtnis ohne eine organische Basis zu denken. Sie lässt dabei aber die Tatsache außer Acht, dass Menschen anders als Tiere in der Lage sind, ihr Gedächtnis auch auf das auszudehnen, was sie nicht selbst erlebt und sich nachträglich angeeignet haben. Maurice Halbwachs, der Pionier der sozialen Gedächtnisforschung, untersuchte Formen eines sozialen Gruppengedächtnisses, an dem jene teilhaben, welche auf einen gemeinsamen Erfahrungsschatz zurückgreifen können. Seine radikale These war, dass Menschen kein individuelles Gedächtnis ausbilden, sondern immer schon in Gedächtnisgemeinschaften eingeschlossen sind.
Das Gedächtnis bildet sich in kommunikativen Prozessen aus, d.h. im Erzählen, Aufnehmen und Aneignen von Erinnerungen. Ein vollständig einsamer Mensch könnte nach Halbwachs deshalb überhaupt kein Gedächtnis ausbilden. Inzwischen wird der Begriff kollektives Gedächtnis nicht nur auf soziale Kleingruppen angewandt, wo einer den anderen kennt, sondern immer öfter auch auf Großgruppen wie Ethnien, Nationen und Staaten. Solche Einheiten haben kein kollektives Gedächtnis, sondern machen sich eines mithilfe unterschiedlicher symbolischer Medien wie Texten, Bildern, Denkmälern, Jahrestagen,.... Mit der Hilfe von gemeinsamen Bezugspunkten in der kulturellen Überlieferung machen sich solche Kollektive damit zugleich eine Wir-Identität, die in Form von Lernen, Teilnahme an Riten, Identifikation und anderen Formen praktizierter Zugehörigkeit erworben wird. Seit den 1990er Jahren begannen verschiedene Staaten damit, auch ihre historische Schuld zu reflektieren und in Form öffentlicher Bekenntnisse als ein negatives Gedächtnis in ihr Selbstbild aufzunehmen.
4