DAS ELEKTRONISCHE GEDÄCHTNIS
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Nicht mehr das Erlernen von Daten wird im Vordergrund stehen, sondern das Wissen über Speicherung, Abruf und Variation von Daten. Letztendlich kommt es also nicht mehr auf unser Repertoire an, sondern auf das Wissen über die Struktur von Systemen. // Flusser
QUELLEN
28 zit.n. Flusser, Philosophien der neuen Technologien, S50
29 zit.n. Flusser, Philosophien der neuen Technologien, S51f

30 zit.n.( S90 Kunstforum, Zwischen erinnern und vergessen)
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DAS ELEKTRONISCHE GEDÄCHTNIS
Das elektronische Gedächtnis kann als Simulation einiger Gehirnfunktionen beschrieben werden. Signifikant dabei ist, dass bei einer Nachahmung einige Aspekte des Imitieren übertrieben, während andere vernachlässigt werden. Als Beispiel bringt Flusser hier den »Hebel« als Simulationswerkzeug des menschlichen Armes: Der Hebel übertreibt die Hebelfunktion des menschlichen Armes, vernachlässigt jedoch sämtliche Aspekte der Feinmotorik. Bei den elektronischen Gedächtnissen verhält es sich ähnlich: Einige Gehirnfunktionen werden aus dem menschlichen Schädel hinaus auf unbelebte Gegenstände (wie etwa Festplatten) projiziert und können dort beobachtet und behandelt werden. Diese technologische Errungenschaft bringt weitreichende Folgen mit sich: Ein beabsichtigtes Resultat stellt die Verbesserung der Gedächtnisfunktion dar (mittels Auslagerung von Daten wird unsere Kapazität beinahe bis in Unermessliche gesteigert). Eine unbeabsichtigte Folge dieser Entwicklung ist, dass sie uns einen kritischen Abstand zu den bereits angesprochenen Funktionen bietet. Im Vergleich zu unseren zerebralen Strukturen sind elektronische Gedächtnisse leichter informierbar sie besitzen eine höhere Kapazität und der Transfer von einem Gedächtnis zum nächsten ist ungleich leichter geworden. „All diese (und andere) Vorteile werden dazu führen, dass künftig die erworbenen Informationen (Daten) nicht mehr in Gehirnen, sondern dort gelagert werden. Dadurch werden die Gehirne für andere Funktionen freigelegt werden.“28
So wird es laut Flusser zu einer Prämissenverschiebung kommen: Nicht mehr das Erlernen von Daten wird im Vordergrund stehen, sondern das Wissen über Speicherung, Abruf und Variation von Daten. Letztendlich kommt es also nicht mehr auf unser Repertoire an, sondern auf das Wissen über die Struktur von Systemen. Im Zuge des technischen »Fortschritts« entwickelte sich auch die technische Maschine weiter, an welche – eine weitere Besonderheit – die elektronischen Gedächtnisse gekoppelt werden können. Somit können in elektronischen Gedächtnissen eingelagerte Informationen in maschinelle Gesten transkodiert werden – »Arbeit«. Die Konsequenz dieser Errungenschaft schlägt sich im Menschenbild nieder: Der Mensch transformiert sich vom Arbeiter (homo faber) zum Spieler mit Information (homo ludens).
Eine weitere Neuerung der Technisierung stellt der Vorgang des Vergessens (»Löschen«) dar: Im Festplatten-Gedächtnis lassen sich Informationen mühelos vergessen. Dadurch wiederum wird die Gültigkeit (und letztlich auch die Richtigkeit) von Daten zeitlich begrenzt. Dadurch wird ein disziplinierterer wissenschaftlicher Diskurs möglich: Informationen werden falsifiziert, überholt und von neuen Erkenntnissen ersetzt. Das elektronische Gedächtnis bietet einen kritischen Abstand und ermöglicht – im Gegensatz zum menschlichen Gehirn, dass oftmals an überholten Informationen festhält – ein einfaches Löschen und Überschreiben (aktualisieren) von Information. „Die Praxis mit elektronischen Gedächtnissen zwingt uns, aller hergebrachten Ideologie zum Trotz, das Erwerben, Speichern, Prozessieren und Weitergeben von Informationen als einen Prozess zu erkennen, der sich zwar auf Gegenstände (Gedächtnisstützen) stützt (zum Beispiel auf Computer hardware oder auf menschliche Organismen), aber diese Gegenstände gewissermaßen durchläuft (eine Tatsache, die mit dem Begriff »Medium« gemeint ist).“29
Diese neue Praxis verdrängt also unserer Ideologie der »himmlischen Bibliothek« und lässt uns informierter Gegenstände (inklusive unseres Körpers) als »Medien« des Informationsprozesses erkennen. Laut Flusser hat der Versuch genau diese Prozesse »verdinglichen« zu wollen keine Richtigkeit: Begriffe wie »Seele«, »Geist«, oder »Identität« sind also in einer Praxis der elektronischen Gedächtnisse aufzugeben. Entgegen dem metaphorischen Bild der transzendenten Bibliothek die über uns schwebt fördern die elektronischen Gedächtnisse ein neues Bild: Wir können uns als einzelne Knotenpunkte in einem Netzwerk des »Wissens« betrachten, die durch einzelne Fäden (Informationsströme) mit einander verbunden sind. In den Knotenpunkten (in uns und unseren elektronischen Prothesen) werden die Informationen gespeichert,
prozessiert und wieder freigegeben. Die Knoten selbst haben in Bezug auf das elektronische Gedächtnis keinerlei eigene Materialität. Löst man die Verbindungslinien (Informationsströme), dann bleibt nichts übrig. „Erinnerung bedeutet, das Vergessen nicht vergessen zu können. Bis jetzt ist das technische Vergessen gar keines, sondern nur ein Löschen. Wenn der Vorgang des Vergessens vergisst, dass überhaupt vergessen worden ist, wenn die Form der Wiederholung nicht mehr als ausdrückliche in der Gegenwart aufscheint, dann wird die Rede von Erinnerung gegenstandslos.“30 Flusser plädiert daher für eine Neubearbeitung eines anthropologischen Konzepts, das den Menschen als Knotenpunkt einiger sich überschneidender Relationsfelder ansieht.